Auffällig viele Erzählstränge

02.06.2021

Bei der Radiale bespielen 14 regionale Künstlerinnen und Künstler vier Orte rund um Heidelberg - ab 03. Juni geöffnet / 1. Teil: Dilsberg und Sinsheim

Eine verwunschene Unterwasserwelt in einem Kommandantenhaus, verwobene Fäden in einer alten Kirche, zerborstene Stühle in einer ehemaligen Synagoge: In der zweiten Ausgabe der Radiale gibt es außergewöhnliche Kunst an ausgesuchten Orten zu entdecken. Als Nachfolgeformat der früheren, vom Landratsamt des Rhein-Neckar-Kreises initiierten Ausstellungsreihe Atelier und Künstler sollte sie eigentlich schon 2020 stattfinden, wurde aber wegen Corona um ein Jahr verschoben. Nun sind insgesamt 14 regionale Künstlerinnen und Künstler mit Arbeiten auf dem Dilsberg, in Sinsheim, in Walldorf und in Ladenburg vertreten. Eine illustre Gruppe, die von einer fünfköpfigen Jury - jeweils zwei Kuratorinnen und Kuratoren sowie einer Künstlerin - aus 153 Bewerbern ausgewählt wurde.

Eines verbindet sie alle: Ihre Positionen können sich buchstäblich "sehen" lassen. Das heißt, sie bieten dem Auge so viel, dass sie auch ohne diskursives Hintergrundrauschen eigene Schlüsse ermöglichen. Und das auf eine Weise, die alles andere als plakativ ist.

Dabei entfalten sich auffällig viele Erzählstränge entlang raumgreifender Installationen, wieder andere in Foto- und Video-Arbeiten: Carmen Berdux aus Heidelberg macht im pittoresken Kommandantensitz auf dem Dilsberg mit wandhohen Fotografien von verlassenen Häusern aus der zypriotischen Grenzstadt Nikosia auf die verheerenden Folgen des Zypernkonflikts aufmerksam; und zwar in einer Inszenierung, die selbst an eine Straßensituation erinnert. Ihr haucht sie mit wechselnden Aufnahmen von Beinen anonymer Passanten neues Leben ein.

Im darüber liegenden Stockwerk breitet sich die phantasievolle Upcycling-Landschaft der in Walldorf lebenden Künstlerin Anja Schreurs aus: Lange Ketten aus weggeworfenem, säuberlich gereinigtem Plastikmüll hängen wie Taue von den Wänden, seltsame Blumen, meterhohe Palmen und korallenartige Verflechtungen verzaubern den Raum. Hier wird schön, was eigentlich schädlich ist und spült mit Macht das Bild verschmutzter Meere ins Bewusstsein.

Eher meditativ geht es in der kleinen Dichterstube des historischen Hauses zu. Dort trifft man auf Exponate von Cholud Kassem aus Heidelberg, die wie ihre Kolleginnen von Kurator Hans-Jürgen Buderer - dem ehemaligen Direktor Kunst- und Kulturgeschichte der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim - auf den Dilsberg eingeladen wurde. Mit ausdrucksstarken Gemälden und einer Video-Arbeit hat sie ein fast schon sakrales Ensemble geschaffen, das auf die enge Korrelation zwischen ihrem Werk und ihrer Vita und damit auf eine besondere Symbiose von Orient und Okzident verweist.

In Sichtweite findet sich im Außenraum die Installation Rolling Rainbow des Heidelberger Künstlers Michael Bacht aus der Serie "Kunst am Grünen Hang", einem Sonderformat der Radiale. Das Werk besteht aus einer Reihung aufrecht angeordneter Aluminiumringe, die in harmonischer Krümmung - durch ein regenbogenfarbenes Spiralband gehalten - die Kontur des Hügels hinter der Burgfeste nachvollzieht. Ohne den sichtbaren Bezug zum Ort und die positive Metaphorik des Regenbogens hätte man allerdings das Gefühl, dass diese Arbeit ebenso gut einen Spielplatz zieren könnte. Einmal mehr zeigt sich daran, wie komplex die Aufstellung im öffentlichen Raum selbst bei guter Konzeption sein kann.

Nicht nur hier, sondern auch in der Stiftskirche Sunnisheim in Sinsheim zeichnet Hans Gercke, der ehemalige Direktor des Heidelberger Kunstvereins, als Kurator verantwortlich. In dem einstigen Sakralbau, der heute als Kulturzentrum dient, überlagern sich viele architektonische Schichten. Genial ausgenutzt werden die Proportionen der Räumlichkeit von dem in Mannheim und Viernheim lebenden Videokünstler Fritz Stier. Er projiziert seine Video-Arbeit in between auf meterlange, fensterbedeckende Bahnen an der Empore und der zwei Geschosse umfassenden Westseite der Kirche. Übergroß zu sehen sind Protagonisten, die sich freischwebend an einer unsichtbaren Querstange festhalten und sich dann beim Fallen - mit beeindruckend transzendentaler Wirkung - auflösen.

Ganz anders reagiert Marie Götze, die derzeit an der HBKsaar studiert, auf den Ort. Sie spinnt Schnüre wie Gedanken durch das Mittelschiff, verbindet den alten gotischen Lettner mit dem romanischen Teil des Gebäudes, legt mit Fundstücken und selbstgefertigten Dingen Spuren in den Neubau und formt ein Echo zu Elementen wie dem Wappen einer Grabplatte. Götze fasziniert der Vorgang des Kompostierens als Handlungsweise im Umgang mit Ressourcen und "verwertet" dabei in fast schon lyrischer Manier auch Plastikmüll und andere Wegwerfprodukte. Die intensive Auseinandersetzung mit dem Raum, die in vielen Positionen aufscheint, ist ein Wesensmerkmal zeitgenössischer Kunst und spielt in Walldorf und Ladenburg ebenfalls eine große Rolle.

Unter dem Titel "Spielwiese im Grünen" am 02. Juni 2021 im Feuilleton der Rhein-Neckar-Zeitung erschienen