Erfahrung des Sichtbaren

05.04.2022

Französischer Künstler Jean-Pierre Le Bars mit "Linien Serien Rhythmen" in der Galerie Grewenig in Handschuhsheim

Bunte Quadrate schweben über einem ockerfarbenen Grund. Schwarze Linien trennen und verbinden, schaffen offene Räume, die ihrerseits quadratisch wirken. Doch ist in dem Bild "Sans titre" von Jean-Pierre Le Bars wahrhaft alles, wie es scheint?

Der französische Maler und Fotograf ist zum ersten Mal in der Galerie Grewenig zu Gast. Unter dem Titel "Linien Serien Rhythmen" zeigt er dort aktuelle, ungegenständliche Malerei in unterschiedlichen Farbklängen und Formaten, die man schnell der sogenannten konkreten Kunst zuordnet.

Denn wiederholt geht es um Variationen von geometrischen Elementen, um das Verhältnis von Fläche und Linie, um Purismus, der sich in der Vielfalt aufgezeigter oder unsichtbarer Möglichkeiten fortsetzt.

Erst wenn man bei Le Bars genauer hinsieht und dazu fordert der aus der Bretagne stammende Künstler explizit auf entdeckt man, dass nicht jedes vermeintliche Quadrat eines ist, dass Geraden leicht versetzt beginnen, minimal zu lang oder zu kurz sind und tatsächlich vieles weniger stereometrisch angelegt wurde als gedacht. Denn es sind nicht die Symmetrie, formale Strenge und Präzision, die den Franzosen interessieren. Stattdessen ist sein malerischer Ansatz eng mit der Fotografie verknüpft, die ihn schon seit seiner Kindheit beschäftigt.

Le Bars wird 1965 in der Hafenstadt Douarnenez geboren. Nach der Schule reist er drei Jahre lang durch Frankreich und Irland, macht zahlreiche Aufnahmen und befasst sich mit der Struktur und Materialität von Küsten. Anschließend zieht er nach Paris, beginnt in Museen zu zeichnen und belegt Kurse an der École des Beaux-Arts. Seitdem fotografiert und malt Le Bars parallel und findet auf der Leinwand nach einer expressiven Phase sukzessive zu seinem heutigen Stil. Er hat damit Erfolg, stellt seit den 1990er Jahren regelmäßig in Frankreich, Holland, Belgien und Japan aus und ist derzeit auch in der Galerie Wagner in Paris zu sehen.

Für seine Arbeit ist das Sammeln von Eindrücken in der Umgebung seiner Heimatstadt, in die er 1993 zurückkehrt, von grundlegender Bedeutung. Der Künstler erzählt im Gespräch, wie er mit dem Fahrrad durch die bretonische Landschaft fährt und ihm dabei scheinbar Unscheinbares ins Auge fällt. Meist sind es Fassaden älterer Häuser, die auf eigene Weise durch Fenster, Türen oder andere Versatzstücke rhythmisiert werden, dabei aber nie wirklich "gradlinig" oder symmetrisch sind. Wie die dunklen Scharniere eines Tores, die auf einer bei Grewenig präsentierten s/w-Fotografie Le Bars eine klare, wenn auch nicht exakte Komposition mit einem horizontal verlaufenden Wandanstrich bilden. Es ist diese Art der leichten, kaum erkennbaren Abweichung, des Irregulären im Alltäglichen, die der Franzose als eine ins Ungegenständliche übertragene Phänomenologie der Gegenwart auf der Leinwand festhält. Und das unterscheidet sein Werk von der konkreten Kunst, die sich laut "De-Stijl"-Mitbegründer Theo van Doesburg von jeder Beobachtung löst und nach dem l'art pour l'art-Prinzip allein auf sich beruht.

Am besten beschreibt Le Bars seine Intention selbst: "Ich suche einen Zustand des Gleichgewichts, eine Dynamik der Formen und Strukturen, die Stabilität und Instabilität, Harmonie und Disharmonie miteinander verbindet. Das Bild soll widersprüchliche Wahrnehmungen hervorrufen, indem es [...] eine Unbestimmtheit darstellt, die den Betrachter auf seine eigene Erfahrung des Sichtbaren zurückwirft."

Unter dem Titel "Das Sichtbare erfahrbar machen" am 05.04.22 im Feuilleton der RNZ erschienen