Herstory statt History

01.01.2023

Geschichte der Performancekunst an der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden

Misal Adnan Yildiz hat sie täglich vor Augen: Leute, die sich gekonnt in Szene setzen. Sie gehören zum gut betuchten Publikum von Baden-Baden, das der Kurator an der Doppelspitze der Staatlichen Kunsthalle im Park vor dem Museum herumflanieren sieht.

Weil gerade eine Reihe von performativen Ausstellungen in der Kunsthalle gezeigt wird – mit Jimmy Robert (bis 15.01.23) und Yvonne Rainer (27-29.01.23) – ergab sich bei ihm die Frage, wie sich eigentlich die an der Kunsthalle interessierte Öffentlichkeit "in einer so ausgeprägt 'theatralen' Stadt wie Baden-Baden an Performancekunst und Performativität" erinnert. Aus diesem Grund wird noch bis zum 22. April unter dem Titel An Imaginary Audience eine Kurze Geschichte der Performancekunst der Kunsthalle Baden-Baden erzählt.

Bewusste Umdeutungen sind dabei Programm: In der übersichtlichen Archivausstellung, die Teil der diskursiven Ausstellungsserie SYNCH ist, unternimmt man den Versuch "aus spezifisch geschlechtersensibler Perspektive heraus (…) die Geschichte der Institution von einer 'history' in eine 'herstory' umzuschreiben."

Und dafür rücken die weiblichen Positionen ins Zentrum der Präsentation, die aus Einzelwerken, Fotografien, Videos, Publikationen und Archivmaterial besteht: Rebecca Horn war 1981 mit ihrem zweiten, narrativ offenen Spielfilm La Ferdinanda – Sonate für eine Medici-Villa in Baden-Baden zu Besuch und bespielte das ganze Haus mit dazu gehörigen Objekten. Auch Tracey Emin wurde schon mehrfach eingeladen. Doch ihre jetzt gezeigte Videoarbeit Sometimes the Dress is Worth More Money Than the Money (2000) war hier noch nie zu sehen. Sie passt inhaltlich zwar gut zum Image der Kurstadt, ist aber gar nicht Teil der "Herstory". Optisch kaum dagegen an kommt eine Plastik aus der beeindruckenden, performativen Schau Experimente für 7 Körperteile, mit der die tschechische Künstlerin Eva Koťátková 2015 in Baden-Baden vertreten war. Auch eine Soundinstallation und ein dazu gehöriges Objekt aus einer nicht realisierten Performance zur Corona-Pandemie, die die israelische Künstlerin Yael Bartana 2020 für die Kunsthalle geplant hatte, sind Teil der Ausstellung.

Dass aktuelle Themen schwerer wiegen als die historische Einordnung oder Verknüpfung zurückliegender Positionen äußert sich zudem darin, dass von dem russischen Künstler Oleg Kulik ebenfalls eine Arbeit präsentiert wird, die nichts mit seinem Auftritt von 2004 in Baden-Baden zu tun hat. Stattdessen entschied man sich für seine spektakuläre Hundeperformance in Moskau von 1994, um auf den Angriffskrieg in der Ukraine zu verweisen. Bei Stephan von Huene, Jürgen Klauke und Emeka Ogboh stimmt es dann wieder. Doch auch diese Künstler werden im Hinblick auf trendige Interpretationsansätze in die Pflicht genommen.

Was das Publikum zu alldem sagt, bleibt abzuwarten. Es darf sich analog und digital dazu äußern, doch diese Resonanz wird in der Schau leider nicht sichtbar.

kunst:art Nr. 89, Jan-Feb 2023