Sinnliche Welten
Künstlerporträt Lars Teichmann / KUNST&material
Sie kann so überwältigend wie subtil
sein, so grell wie gedämpft. Sie kann sich auf riesigen oder kleinen Leinwänden
vollziehen. Übersehen kann man sie nicht: die Malerei von Lars Teichmann.
Sie tritt in Form geisterhafter, überlebensgroßer Adliger in Erscheinung, als lebendiges Stillleben mit allen klassischen Zutaten, als eindrucksvolle Landschaftsszene oder als Antlitz einer fantasievoll geschmückten Frau. Dabei spielt Teichmanns Kunst auf vielschichtige Weise mit dem kollektiven Gedächtnis der Betrachter*innen, mit der scheinbaren Erkennbarkeit des Gezeigten, das sich teils ganz konkret, doch oft nur entfernt auf ein künstlerisches Vorbild aus der Zeit des Barock bezieht oder auf verschiedene Strömungen des 18. und 19. Jahrhunderts, wie den Klassizismus, den Japonismus und die Salonmalerei [2].
Ist man schon in Ausstellungen Teichmanns von der so glanzvollen wie spröden Ästhetik der Bilder fasziniert, entfalten die Werke am Ort ihrer Entstehung eine noch stärkere Wirkung. Das liegt daran, dass der Berliner Künstler in seinem Atelier im Stadtteil Prenzlauer Berg auch seine bis zu 3,5 m hohen oder breiten Formate zeigen kann, die längst nicht in jeden Galerie- und Museumszusammenhang passen. Angesichts dieser Dimensionen taucht man förmlich ein in die Malerei.
Viele der neusten Leinwände, die der 1980 in Burgstädt bei Chemnitz geborene Künstler gerade für eine Kunstmesse und eine große Einzelschau in Berlin geschaffen hat, sind platzsparend aufgerollt und, wie die aufgezogenen Arbeiten, über verschiedene Räume und Flure verteilt. Dazwischen finden sich kleine und mittelgroße Bilder an den Wänden, wie schwarz grundierte Porträts oder peppige Frucht- und Blumenarrangements.
Wir treffen uns zunächst in einer im Vorderhaus liegenden Erdgeschosseinheit, die zu DDR-Zeiten eine Zahnarztpraxis war und Lars Teichmann als Büro, Lager und Archiv dient. Im größten Zimmer hat er die alte Wandverkleidung entfernt und darunter eine abenteuerliche Mauerstruktur freigelegt - mit Zeitungsresten aus dem Jahr 1929, Einschusslöchern sowie fast waagerecht verlaufenden Rissen, die vermutlich auf einen kriegsbedingen Bombeneinschlag in der Nachbarschaft zurückgehen und leise an der Statik des aus der Gründerzeit stammenden Gebäudes zweifeln lassen. Der Maler selbst ist sichtbar angetan von diesem eigenartig ästhetischen Speicher schon lang vergangener Lebensrealitäten.
Generell nimmt das Thema Zeit viel Raum in Teichmanns künstlerischem Denken und Handeln ein und das nicht nur durch seine Affinität zu einer Malerei, die sich vor mehreren Jahrhunderten ereignet hat. Bevor er beginnt, auf eine Leiter zu steigen und mit erstaunlicher Mühelosigkeit die ersten übergroßen Leinwände an die Wand zu tackern, beschreibt er seinen Weg und erklärt, wie die Kunst von Velázquez ihm zu seinem eigenen Stil verholfen hat.
Als Jugendlicher und junger Erwachsener ist Teichmann in der Graffiti-Szene aktiv und reist mit seiner "Crew" durch die ganze Republik. Während seines Zivildienstes richtet er sich in einer stillgelegten Chemnitzer Fabrik ein Atelier ein, wo er zeichnet, malt und mit unterschiedlichen Medien experimentiert. Auch im öffentlichen Raum ist seine Ausdrucksweise variabel. Nach anfänglichem Allover aus verschlungenen Formen, Buchstaben und Zeichen, wirft Teichmann einerseits aufwendig gestaltete, technisch-futuristische Darstellungen, andererseits skizzenhaft-surreale Figurationen an die Wand. Ein radikales Zeugnis dieser Zeit ist ein Sketchbook mit Collagen, Zeichnungen und viel schwarzer Farbe. Als sich Teichmann 2002 an der Universität der Künste in Berlin bewirbt, reicht er das Buch mit ein und wird prompt genommen.
An der UdK studiert er zunächst bei Wolfgang Petrick, von dessen skurril-gegenständlichem Stil er zwar beeinflusst wird, sich dann aber davon löst. Er begeistert sich für den Abstrakten Expressionismus, wälzt Bücher in der Bibliothek, bewundert Willem de Kooning und lässt verstärkt gestisch-malerische Momente in seine Arbeit mit einfließen. Nachdem er sich 2005 mit seinem Professor überworfen hat, muss sich Teichmann auf die Suche nach einem eigenen Atelier machen und wird schnell mit dem heutigen Studio fündig. Außerdem kann er bei Daniel Richter weiterstudieren und die Akademie 2008 als Meisterschüler von Valérie Favre abschließen.
Bis zu seinem Bruch mit Petrick erlebt der Künstler das Studium als "Zerreißprobe", bei der er auf grundlegende, zum Teil auch ganz praktische Fragen an die Malerei keine schlüssigen Antworten findet. Doch kurze Zeit später fällt ihm ein alter Schwarz-Weiß-Katalog mit Werken von Diego Velázquez (1599-1660) in die Hände. Die Reproduktionen sind schlecht, aber genau das macht ihren Reiz aus: sie werden zur Basis für eine abstrakte Auseinandersetzung mit der Gegenständlichkeit. Denn es ist vor allem die formale, klassische Grundstruktur, die Teichmann interessiert, weniger der Auftrag oder die Ausführung der Barockgemälde. Reste der Komposition dienen lediglich als Gerüst für einen freien Umgang mit den jeweiligen Sujets.
Während der Künstler vorher Pigmente mit Öl angemischt hat, greift er nun zum Acrylbinder und schafft - hauptsächlich aus einem tiefdunklen Hintergrund heraus - die ersten, verschwommenen Bilder. Kaum sichtbar zeichnen sich Figuren darauf ab, wenige helle Akzente lassen Andeutungen von Gesichtern, Händen und Hüten mehr erahnen als erkennen.
Sofort ist sich Teichmann bewusst, dass diese Art der Malerei für ihn funktioniert. Ironischerweise kann er im Rekurs auf klassische Werke sämtliche zeitgenössische Anleihen hinter sich lassen und seine persönliche Sprache entwickeln. Es ist für ihn wie eine Initialzündung, die sich in einer neuen Resonanz auf seine Arbeit äußert. Eine Berliner Galerie nimmt ihn 2005 unter Vertrag, die ersten Ausstellungen und Ankäufe folgen. Wirklich hilfreich ist laut Teichmann auch die Abgeschiedenheit in seinem Atelier, das er sich anfangs noch mit ein paar Architekturstudenten teilt, dann aber komplett übernimmt und umbaut.
Häufig fertigt der Künstler Variationen an, wie - vor ihm Picasso - zu Velázquez' berühmtem Gemälde Meninas von 1656 [3]. An der ausgesprochen individuellen Behandlung des Themas zeigt sich sofort, dass es Teichmann nicht um Ikonographie geht. Alles ist schemenhaft und leicht komprimiert, einige Figuren sind kaum zu erkennen, andere fehlen ganz und anstelle von Physiognomie und Inkarnat finden sich weiße Flecken. Schnelle Pinselschwünge, Farbschlieren und Verwischungen versetzen die Komposition in Aufruhr: von der relativ friedlichen, vielleicht etwas steifen Atmosphäre in Velázquez' Bild ist nichts mehr zu spüren.
Was zählt ist die malerische Diffusion, die Auflösung der Vorlage bis an die Grenze der Unkenntlichkeit. Bis zu dem Punkt, wo aus der Adaption etwas Neues entsteht, das Teichmanns Gemälde in der Gegenwart verortet. Dass in der Rezeption oft ein Abgleich mit der Referenz stattfindet, durch die Anonymisierung der Figuren aber alle Hierarchien aufgehoben werden, birgt einen spannenden Nebeneffekt.
Auch bei Julius II, Pope after Raphael [4] sind die markanten weißen Setzungen und Platscher, die der Künstler jetzt generell anstelle von Konterfei und Händen aufträgt, Teil der Abstraktion. Diesmal scheinen es formale und farbige Anreize zu sein, die zur Entscheidung für das Sujet führen.
Erfrischend leichtfüßig greift Teichmann auf berühmte Gemälde zurück, ohne sich dabei an den jeweils zu Öl gewordenen, historischen Figuren oder den für das Original verantwortlichen Künstlerpersönlichkeiten abzuarbeiten.
Trotzdem kommt man nicht umhin, in seinem Raphael-Zitat einen gewissen Hang zur Dekonstruktion auszumachen. Dafür sind auch die schmerzhaften Deformationen in Francis Bacons Papstdarstellungen, die sich ihrerseits auf Velázquez Porträt von Innozenz X. beziehen, zu präsent. Während er mit Sehgewohnheiten bricht, ist Teichmann sich sehr wohl bewusst, dass er mit seinen Arbeiten einen ungeheuren Raum aufmacht, der eine Jahrhunderte alte Rezeptionsgeschichte umfasst.
Mit großer Stringenz weitet der Künstler sein Themen- und Quellenrepertoire über die Zeit aus. Er findet Inspiration in Katalogen, Büchern, Illustrationen sowie im Internet und kopiert oder druckt seine Funde aus: "Ich gehe mit dem Material umher, um daraus etwas zu schaffen." Die direkte Begegnung mit dem Ursprungsbild ist weniger wichtig, oft ist der Informationsverlust durch mangelnde Qualität der Reproduktion - wie beim Velázquez-Katalog - sogar willkommen, führt er doch per se schon in Richtung Verfremdung.
Bemerkenswert ist, dass die meisten Motive in Teichmanns Werk ab- und wieder auftauchen, sie also in einer Art Wellenbewegung über die Jahre durchaus konstant bleiben, nur durch Synthese oder Transformationen und damit im Hinblick auf ihre Erkennbarkeit eine gewisse Entwicklung durchmachen. Dabei gehen zunehmend Impulse von den eigenen Arbeiten aus. Auch stilistisch wird Teichmann gelegentlich kompakter, nur um dann zu seiner energischen, vieles ins Unwirkliche fegenden Handschrift zurückzukehren.
Kurz nach Velázquez entdeckt er den französischen Salonmaler Bouguereau (1825-1905) für sich und extrahiert aus dessen Werk Ideen für mehrfigurige Kompositionen oder die Darstellung junger Mädchen in ländlichen Szenerien. Mit dem 200 x 150 cm messenden Gemälde Fountain Girl von 2015 [5] geht Teichmann fast bis zur vollständigen Auslöschung des Gezeigten vor: In einem dunkel gehaltenen Mittelgrund dominieren unruhig-bewegte waagerechte Farbformationen in schmutzigen Braun- und Grüntönen als vage Zeichen von Zivilisation mit einer Andeutung des im Titel erwähnten Brunnens. Eine leicht aus dem Zentrum gerückte, weibliche Gestalt scheint damit bis zur Taille zu verschmelzen, denn ihr kaum zu definierender, tiefschwarzer Rock franst schattenartig nach links und vorne aus. Noch diffuser wirkt ihr Oberkörper. Gesicht und Rumpf zerfasern vollends, geschwungene Linien in Rost, Braun und Schwarz sind von unsichtbaren Fliehkräften genauso betroffen wie einzeln aufgebrachte Akzente. Farbig grandios verklammert, ist das Ganze von einer regelrechten Dramatik, als würden Figuration und Abstraktion einen Kampf austragen. Die Farbe behauptet ihr Potential als autarkes Medium und das nicht nur in den freien gelben Linien, die durchs Bild schwirren. Weil den Aufhänger - Bouguereaus Gemälde La cruche cassée von 1891 - heute kaum noch jemand kennt, kann man sich in die Betrachtung der Malerei als Material vertiefen.
Wesentlich ruhiger und plastischer entwirft Teichmann die ebenso große, zur gleichen Serie gehörende Darstellung Girl with Ram von 2020 [6]. Hier fügt er einen ungewöhnlich hochbeinigen Schafbock mit ein, dessen stilisierte Form an die der Kleinplastiken von Renée Sintenis (1888-1965) erinnert.
Kontemplativ und heller gestaltet sind auch die durch japanische Kunst und Kultur stimulierten Arbeiten Teichmanns. Seine Begegnung mit dem traditionellen Kabuki-Theater, japanischen Holzschnitten und alten Fotografien führt zu zahlreichen, besonders breiten Impressionen: zarten, meist linear angelegten Landschaften mit Dschunken und festlich gekleideten Geishas. Eine per se freie und ausgesprochen zeitlose Komposition also, die sich aus gleich mehreren Quellen speist. Die Darstellung Saigon River [7] von 2018 wird mit einem ungewöhnlich kräftigen Farbklang unterlegt, der auch in Teichmanns Stillleben wieder auftritt.
Infolge der anfangs verwendeten Schwarz-Weiß-Vorlagen verschwindet die Farbe nach 2005 für längere Zeit aus seinen Werken. Noch während des Zivildienstes erwirbt der Künstler eimerweise schwarzes Pigment aus DDR-Beständen, außerdem Umbra und Gelb. Die Töne, vor allem das satte Schwarz, bilden bis heute die Grundlagen seines unverwechselbaren, oft zum Dunklen tendierenden Kolorits.
Eindrucksvoll demonstriert der Maler, wie er aus diesem alten Vorrat, dem Acrylbinder und etwas Titanweiß die für ihn typisch erdig-gebrochenen Nuancen kreiert. Darüber hinaus verwendet er heute fertig angemischte Acrylfarben, eine große Palette aus Natur-, Pastell- und Bonbontönen sowie Sprühlack.
Mittlerweile sind wir über den Hof in Teichmanns Atelier im Hinterhaus gegangen. In dem hohen ebenerdigen, weiß getünchten Raum sind die Fenster teilweise mit hellen Vorhängen verdeckt. Neonröhren kleben unter der Decke und an den Wänden finden sich ein großes unvollendetes Stillleben sowie weiß und pink grundierte Leinwände mittleren Formats. Farben und Pinsel sind über Regale, Tische und einen alten Kachelofen verteilt, auf dem farbgesprenkelten Fußboden liegen alte Einladungskarten und Pappen, die der Künstler gelegentlich über die noch feuchten Farboberflächen zieht. So gesehen manifestiert sich Teichmanns Hang zur malerischen Auflösung auch an diesen Materialien.
Jetzt beginnt er die ersten, großen Leinwände auszurollen: Plötzlich findet man sich einem riesigen, unglaublich anmutigen Porträtkopf gegenüber, der zu einer jungen Frau mit schwarzen Haaren, blauen Augen und sehr melancholischem Blick gehört [8]. Aus wenigen breiten Pinselstrichen und Tupfern entwirft Teichmann ihr Gewand und wird nur unwesentlich deutlicher in der Physiognomie, die er dann verwischt. Er durchwirkt die Kleidung, den Schmuck, die Haarpracht, das Inkarnat und den Hintergrund farblich mit blauen, beigen und rostroten Tönen sowie mit seinem unverwechselbaren Schwarz und bündelt das Ganze zu einer faszinierenden Mischung aus Präsenz und Entrücktheit.
Das Bild Isabella von 2022 gehört zu einer Serie mit frei assoziierten Titeln, die der Künstler im Rekurs auf repräsentative Porträts aus der Mitte des 19. Jahrhunderts im Frühling 2022 beginnt. Dabei bezieht er sich vor allem auf Darstellungen Franz Xaver Winterhalters, der als "Fürstenmaler" an mehreren europäischen Höfen tätig war. Mit diesem Format nimmt Teichmann einen Ansatz wieder auf, den er vor ein paar Jahren bereits auf Grundlage von Werken Ingres oder Frans Hals' erprobte.
In der neuen Reihe geht es ihm um unterschiedliche Farbstimmungen, die in den Referenzen durchaus anklingen, sich dann aber verselbständigen können. Heute dienen ihm im Atelier, direkt an einen alten Kachelofen geklebt, sehr kleine Reproduktionen als Vorlagen. Sie bilden als Schnipsel oder "samples" - der Künstler veröffentlicht unter dem Namen "TSOLT - the sound of lars teichmann" auch experimentelle Soundcollagen - den Ausgangspunkt und werden dann in einen anderen Kontext, in seine eigene Idee von Kunst überführt.
Denn wenn er die Anlage auf der Leinwand grob umrissen hat, entwickelt er die Arbeit aus einem Malprozess heraus. Und der gestaltet sich so intensiv wie intuitiv: "Wenn ich ein Bild male, kommt es zum Dialog mit den Farben und dadurch entsteht etwas, das ich interessant finde," erklärt Teichmann. "Doch die Bilder gelingen nur, wenn ich ganz frei bin, innerlich gelöst."
Das glaubt man sofort, da seine Gemälde diese besondere Energie ausstrahlen und ein hohes Maß an mentalem sowie körperlichem Einsatz - die Leiter ist beim Malen der meisten Formate essenziell - erahnen lassen. Nicht zuletzt dadurch hat er die früh praktizierte Auseinandersetzung mit großen Flächen zur Perfektion gebracht.
Und das zahlt sich aus: Der Vater zweier Teenager, der um acht Uhr morgens ins Atelier geht und für seine Arbeit einen gewissen Rhythmus braucht, wird heute auch von Galerien in Düsseldorf, Frankfurt, Heidelberg und Ahrenshoop vertreten. 2011 und 2015 nimmt Teichmann jeweils an der Biennale in Venedig teil. Er ist in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen, während seine Werke in viele private und öffentliche Sammlungen wandern.
Auch Annabell von 2022 [9] ist für die schon erwähnte Einzelschau bei Brennecke Fine Art in Berlin bestimmt. Auf einer Fläche von 200 x 160 cm blickt sie im Halbprofil verträumt ins Weite. Bei ihr verbinden sich Braun- und Grüntöne in Kleid und Haar sowie warme, mit lachsfarbenen Schatten durchsetzte Beigenuancen in der Haut zu einem harmonischen Gefüge. Doch einige markante, schnell aufgetragene, orangene Längsstreifen schwirren über Gesicht und Brustbereich und fügen dem rechten Auge eine Art malerischer "Verletzung" zu.
Durch das enorm ambivalente Verhältnis von Gegenständlichkeit und Abstraktion, sowie den Gegensatz zwischen weit in die Vergangenheit reichenden Sujets und einer bewegten, partiell radikalen Gestik, mit der sie in der Gegenwart fixiert werden, schafft Teichmann eine Dialektik von Tod und Leben.
Auch wenn diese auf den geisterhaften Bildnissen am stärksten auftritt, sprich dort, wo die "Identität" mehr oder weniger berühmter und natürlich längst verstorbener Personen unter weißer Farbe verschwindet, ist sie im Grunde überall spürbar. Sogar in den beeindruckenden Stillleben des Malers.
Zum Beispiel in dem faszinierend dynamischen Classic Still Life III [10] von 2020. Es gehört zu einer Gruppe von Gemälden, die ihre Nähe zur traditionellen, flämischen Malerei des 16. Jahrhunderts selbstbewusst offenbaren. Nur dass Teichmann anstelle spezifischer Werke, prägnante Details aufgreift, die er in individuelle Kompositionen überführt.
Hier sind es hell schimmerndes Steinzeug und leuchtendes Obst vor dunklem Grund. Dinge, die der Künstler mühelos-theatralisch zu einer Dreiecksform verdichtet, wobei er das Stillleben mit seinem Duktus in einen Zustand großer Unruhe taucht. Den gelb akzentuierten Zitrusfrüchten verleiht er ein fast schon aberwitziges Eigenleben, während er bei kleinen, ähnlich farbigen Acrylbatzen auf der rechten Seite jede Bezeichnung offenlässt. Obwohl von Menschen keine Spur ist, scheint sich Teichmanns charakteristischer, figurativer Expressionismus auch in diesen Gemälden fortzusetzen.
Vom Vergänglichkeitsaspekt der traditionellen "nature morte" trägt die vibrierende Interpretation nur noch Reste in sich. Doch durch die edlen Sujets, den klassischen Bildaufbau und den dunklen Umgebungston stellt sich der Effekt vermeintlicher Vertrautheit ein. Also das Gefühl, dass man das Gezeigte kennt, ohne dass es in dieser Form als Vorbild existiert.
Aufschlussreich ist, wie der Maler Wesenszüge seiner poppigen Stillleben in das Bild mit einfließen lässt. Die starkfarbigen Ableger, in denen Teichmann buchstäblich freches Obst auf Schalen und Etageren stapelt, besitzen eine andere Anmutung als der Rest des Werks. Sie sind wesentlich leichter, punkten mit originellen Momenten und schlagen hinsichtlich Kolorits und Faktur einen Sonderweg ein [11].
Überhaupt sagt die Distanz zu ihrer ursprünglichen Referenz, den Sonnenblumenbildern von van Gogh, einiges über ihren Transformationsprozess aus. Dabei kommt die vom eigenen Œuvre ausgehende Inspiration ins Spiel: "Jedes Bild hat einen Bezug zu anderen meiner Arbeiten." Der Künstler schöpft aus persönlichen Lösungen und einer Verkettung von Variationen. Im Laufe der Zeit bereichert und verändert die Akkumulation von Themen und Farben außerdem Teichmanns Kombinationstechnik.
Besonders deutlich wird dieser additive Ansatz an der neuesten Linie von Stillleben, zu der die monumentale Big Vase von 2022 gehört [12]. Das gigantische Blumengefäß prangt auf einem Geviert von 230 x 200 cm Größe - es ist die letzte Leinwand, die der Maler entrollt. Die Vase wölbt sich hell hervor, kontrastiert mit dem eher dunklen Hinter- und Mittelgrund und ist im Delfter Stil mit Landschaft, einer Geisha und einem Schafbock verziert. Sie dominiert die ganze Szene, während der dazu gehörige Strauß die Farbigkeit des Interieurs in gebrochenen Blau-, Weiß- und Brauntönen aufnimmt. Die Komposition vereint diverse Stoffe aus Teichmanns Bildern - wie eine Reflexion der musealen Topoi, die er bevorzugt aufgreift.
Bis heute spricht ihn die Motivwelt der Vergangenheit stärker an als die der Gegenwart. Das zeitgenössische Bildvokabular löst keine Resonanz in ihm aus, während klassische Gemälde mit einer "Summe von formalen Reizen" ihn immer wieder zum Pinsel greifen lassen. Seine Kunst ist nicht zuletzt eine unorthodoxe Art der Weltbewältigung, die deshalb Substanz hat, weil sie auf der Basis sehr alten künstlerischen Wissens einer neuen, inneren Ästhetik folgt. Als Antwort auf aktuelle politische Fragen schafft Teichmann nach eigener Aussage eine "sinnliche Welt, die man braucht, um den Rest zu verkraften.
KUNST&material / Sept-Okt 2022