Topografie des Urbanen
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Große Filmkunst-Ausstellung "Facing New Challenges: Cities" im Heidelberger Kunstverein - Kooperation mit Internationalem Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Es ist dunkel, nur der Schein einer Taschenlampe flackert durch einen alten, unterirdischen Abwasserkanal. Französische Stimmen aus dem Off formen Erinnerungen. An anderer Stelle ist es hell, man blickt auf die Isar, in lichte Treppenhäuser oder auf gut ausgeleuchtete Schnecken und Muscheln. Dazwischen gleitet die Kamera über Fassaden von Gebäuden in München, die im Dritten Reich zum Schauplatz von Machtdemonstration, Widerstand und Verrat wurden: Haus der Kunst, Feldherrnhalle, Ludwig-Maximilians-Universität.
Der Film "Voice and Shells" der Französin Maya Schweizer ist Teil der Ausstellung "Facing New Challenges: Cities - Urbane Gemeinschaften", die der Heidelberger Kunstverein in Kooperation mit dem Internationalen Filmfestival Mannheim-Heidelberg und der IBA realisiert hat. Sie führt über zehn filmische Arbeiten von Künstlerinnen und Künstlern vor, die weltweit vernetzt und vertreten sind.
Die anspruchsvollen Werke flimmern in den aufwendig abgedunkelten Räumen des Kunstvereins über große Bildschirme und bieten ganz unterschiedliche Perspektiven auf urbane Strukturen. Die Stadt bietet laut Direktorin Ursula Schöndeling, die die Ausstellung zusammen mit Maya Schweizer kuratiert hat, den idealen Hintergrund für aktuelle, gesellschaftsrelevante Themen. So beschäftigt sich zum Beispiel die schwedische Künstlerin Johanna Billing in ihrer Produktion "In Purple" (2019) mit Partizipation: Sie filmt junge Mädchen, die sich in einem schwedischen Vorort symbolisch gegen hauptsächlich für Jungen entworfene Freizeitflächen wie Fußballfelder und Basketballplätze wehren. Sie bilden eine erfolgreiche, multikulturelle Tanzgruppe, die lange in einem Keller proben musste, als Zeichen dafür lilafarbene Glasplatten ins Außen trägt und schließlich im Freien performt.
In der zentralen Halle des Kunstvereins geht es viel um Fragen der physischen Präsenz im öffentlichen Raum. So auch in Clemens von Wedemeyers Arbeit "70.001" von 2019. Darin werden Straßen und Plätze aus Leipzig in Form einer Computersimulation umrissen und mit zahlreichen, zeitgenössischen "Montags-Demonstranten" bevölkert. Als digitale Agenten vermehren sich diese in Sekundenschnelle: Ein Symbol dafür, dass virtuelle Meinungen im Netz unberechenbar in ihrer Verbreitung sein können.
Von einem individuellen, zum Teil gewaltsamen Aufbegehren gegen Luftverschmutzung und Klimakatastrophe in Berlin erzählt "H.A.Z.E. City" (2021) von Nina Schönefeld, die ihre im Protest lebenden Figuren sowohl in der Stadt als auch im Grünen verortet. Eine gefährliche Mischung aus realem Naturdesaster und nachgestellten zwischenmenschlichen Konflikten serviert gleich nebendran Loretta Fahrenholz mit ihrem in New York City angesiedelten Film "Ditch Plains" (2013). Sie dokumentiert Auswirkungen des verheerenden Hurricanes Sandy und versetzt diese Aufnahmen mit Sequenzen einer Street Dance Truppe, die persönliche Erfahrung von Bedrohung zum Ausdruck bringt. Vor allem Nacht herrscht auch in "City of Tales" (2018) von Arash Nassiri. Die Iranerin lässt jüngere Landsleute in Los Angeles von ihrer Kindheit in Teheran berichten. Dabei überlagern sich Bilder von der Skyline der kalifornischen Metropole mit denen der iranischen Hauptstadt, die in den 70er-Jahren nach westlichem Maßstab modernisiert wurde.
Um "Stadt" als Ort von Geschichte kreisen Arbeiten, die sich im Bereich der Empore sowie im Studio des Kunstvereins befinden. Hier besticht die Dokumentation "Inventur", die der aus Serbien stammende Regisseur Želimir Žilnik 1975 über die Situation von Gastarbeitern in München drehte. Darin lässt er die Bewohner der Metzstraße 11 auf der gemeinsamen Treppe des Hauses nacheinander in wenigen Sätzen die eigene, oft nicht leichte Lebenssituation beschreiben.
Anders beklemmend sind die "SPOTS" der gleichnamigen Gruppe von Künstlerinnen und Künstlern, die sich mit den Ungereimtheiten der NSU-Morde und -Anschläge befassen und vor allem (post-) migrantische Betroffene zu Wort kommen lassen. Die auf kleinere Bildschirme verteilte Installation wird durch Informationsmaterial ergänzt.
In Juliane Henrichs Film "Aus westlichen Richtungen" von 2016 ziehen schließlich Aufnahmen von Wohn- und Industrieanlagen, Schrebergärten und Minigolfplätzen als Inbegriff einer westdeutschen, vor etwa 50 Jahren festzementierten Lebensrealität an einem vorbei, unterlegt mit autobiografischen Texten.
Es ist generell erstaunlich, wie stark sich künstlerischer Film sowohl vom Genre der Dokumentation als auch vom Erzählkino unterscheidet, indem Fiktives auf Reales trifft, Narration nur fragmentarisch und Handlung kaum existiert, sich aber dadurch neue Erlebnisräume öffnen.
Ergänzend zum visuellen Angebot der Reihe "Facing New Challenges", die nun schon zum zweiten Mal parallel zum Festival läuft, veranstaltet der Kunstverein zusammen mit der IBA sogenannte Tafelrunden, um themenrelevante Diskussionen aktiv in die Stadt hineinzutragen.
Rhein-Neckar-Zeitung, Feuilleton, 11.11.2021