Vakuum und Wahrheitsfindung

11.06.2022

Ausstellungsauftakt für Søren Grammel im Heidelberger Kunstverein/Neuer Direktor präsentiert drei spannende Positionen - Eröffnung heute um 16 Uhr

Schon im Foyer merkt man, dass etwas anders ist: Zwei farbige Tribünen von überschaubarer Größe bieten dort Platz zum Verweilen. Auf der Glastür des Eingangs steht "Willkommen" und "Eintritt frei", während sich die Sitzelemente im vorderen Bereich des HDKV fortsetzen. Hier gibt es jetzt auch eine Bücherwand und eine Ecke mit Editionen.

Søren Grammel, der neue Leiter des Heidelberger Kunstvereins hat sein Versprechen gehalten und die Institution in der Hauptstraße für Besucher ausgesprochen einladend umgestaltet. Wie er beim Presserundgang erklärt, möchte er das Haus durch fließende Übergänge und den Wegfall der Eintrittsgebühr zu einem "öffentlichem Raum" machen.

Bewegt man sich zwischen den farbenfrohen Sitzmodulen, ist man schon mittendrin in der ersten Ausstellung mit dem Titel "Revision-part II": Die insgesamt sechs Tribünen stammen von der in London und Mailand tätigen Künstlerin Céline Condorelli (geb. 1974) und sind als sogenannte "Support Structures" weit mehr als nur Möbel. Sie unterstützen und verändern die Art und Weise, wie Kunstinstitutionen genutzt werden und können in unterschiedlicher Anordnung flexible Voraussetzungen für Konferenzen, Diskussionen, Seminare und Schulklassenbesuche schaffen. Da sich zeitgenössische Kunst häufig mit gesellschaftsrelevanten Themen befasst, rückt die Vermittlung zunehmend in den Mittelpunkt des Ausstellungsgeschehens, weiß Grammel.

Auch die Installationen der documenta-Künstlerin Alice Creischer (geb. 1960) liefern elementare Einblicke in soziale, ökonomische und ökologische Zusammenhänge. Creischer zählt zu einer der wichtigsten Vertreterinnen politisch orientierter Konzeptkunst und hat - allein oder zusammen mit ihrem Partner Andreas Siekmann - schon zahlreiche Projekte realisiert.

In ihrer Arbeit "Das Etablissement der Tatsachen", mit der sie Halle und Empore bespielt, nimmt sie Bezug auf den berühmten Disput zwischen dem Naturforscher Robert Boyle und dem Philosophen Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert: Boyle, ein Mitbegründer der Naturwissenschaften, hatte eine Vakuumpumpe entwickelt, mit der es ihm gelang, einen weitgehend luftleeren Raum zu erzeugen. Dem Beweis dienten Versuchsmäuse, die in der Apparatur erstickten. Hobbes, der vor dem Hintergrund des englischen Bürgerkriegs in den 1640er Jahren von der uneingeschränkten Macht des Staates überzeugt war, kritisierte, dass nicht mehr der regierende Souverän, sondern Vertreter des "Establishments of Matter of Facts" - wie Boyle - auf der Grundlage empirischer Verfahren Wahrheitsfindung und Deutungshoheit für sich beanspruchen und dadurch Chaos verursachen könnten.

Mit Fantasie und Hintersinn setzt die Künstlerin diese Situation in Szene. Auf von der Decke hängenden Collagen und Bildern, sowie an den Wänden fixierten Fotografien sind mehrfach Umrisse von Boyles (Versuchs)-Mäusen zu sehen. Aufständische - Opfer des von Hobbes gerühmten, repressiven Systems - baumeln als Gehängte vor dem Gesicht eines als Richterin verkleideten Mädchens mit barocker Perücke, gleich daneben kunstvoll applizierte Zitate aus damaligen Pamphleten. Diese und andere Inhalte fließen schließlich über Trichter und dünne Schläuche in eine fragile Pumpe aus Papier.

Bekanntlich ist das "Establishment" naturwissenschaftlich hergeleiteter Fakten seit der Aufklärung federführend, es wird aber in den Augen der Künstlerin selbst zu einer fragwürdigen, von Politik und Ökonomie instrumentalisierten Instanz: Mehrfach verweisen aktuelle Luftaufnahmen von Rohstoff-Minen in Peru auf die Ausbeutung der dort vorhandenen materiellen und personellen Ressourcen.

Obwohl man das im Saal ausliegende Infoblatt braucht, um die Hintergründe zu verstehen, liefert die Installation, jenseits von "alternative facts" und Querdenkertum, wertvolle Impulse. Auch in Form einer Dekodierungsaktion, an der sich das Publikum unter der Empore aktiv beteiligen kann.

Mit der Auswirkung medialer Inhalte auf die Wahrnehmung der eigenen Wirklichkeit befasst sich dagegen Philipp Timischls Ausstellung "Realität ist das schlimmst-mögliche Szenario" im Lichthof und Studio des Kunstvereins. Hier findet sich die LED-Skulptur "Kim and Kourtney FIGHT over Work Ethic" mit dem verlangsamten Ausschnitt aus einer Kardashian-Folge, in der es um moralische Fragen geht, sich die Akteure aber während der Diskussion gegenseitig beschimpfen und handgreiflich werden. Ein Verhalten, dass sicher Spuren bei ihrem Millionenpublikum hinterlässt. Eindrucksvoll ist auch die LED-Skulptur, die den Ausstellungstitel auf Englisch trägt und Ausschnitte von einer Autoreise wiedergibt, die der österreichische Künstler (geb. 1989) mit Freunden durch die USA unternimmt. Sie spielt mit dem durch Schnitttechnik bewusst herbeiführten Auftreten von "Zufällen" und reflektiert die europäische Sicht Philipp Timischls auf die USA.

Mit seinem neuen, überzeugenden Besucherkonzept sowie wichtigen Positionen, die sowohl auf kognitiver als auch auf sinnlicher Ebene funktionieren, ist Grammel ein gelungener Start im Heidelberger Kunstverein geglückt. 

Unter dem Titel "Thomas Hobbes trifft auf Kim Kardashian" am 11. Juni 22 gekürzt erschienen im Feuilleton, ungekürzt erschienen im Online-Portal der RNZ: https://www.rnz.de/kultur/kultur-regional_artikel,-_arid,904483.html