Von der Reise nach Jerusalem und anderen Geschichten

05.06.2021

Große Ausstellung Radiale mit zeitgenössischen Positionen im Rhein-Neckar-Kreis / 2. Teil: Walldorf und Ladenburg

Von Julia Behrens

Alle zwei Jahre ermöglicht sie eine Entdeckungstour durch die Kunstlandschaft der Region. Dabei führt die vom Rhein-Neckar-Kreis organisierte Radiale, die diesmal mit einjähriger Corona-Verspätung startet und heute mit ihren Stationen in Walldorf und Ladenburg vorgestellt wird, jeweils auch an neue Schauplätze (Bericht über den Dilsberg und Sinsheim am 02.06.21).

Wie zum Beispiel in die frisch renovierte, ehemalige Synagoge in Walldorf, die von der in Mannheim lebenden Künstlerin Fritzi Haußmann bespielt wird: Darin hängen schwarze Fahrradschläuche wie Schicksalslinien von der Decke und winden sich durch eine aus der Ordnung gekippte Reihe unterschiedlich stark versehrter Stühle. In ihrer Installation nimmt Haußmann nicht nur Bezug auf die Zerstörung des Synagogen-Inventars im November 1938, sondern auch auf das Spiel "Reise nach Jerusalem", das an den begrenzten Platz auf den Auswanderschiffen für jüdische Migranten auf dem Weg nach Palästina erinnert. Bemerkenswert ist, dass die Walldorfer Bevölkerung nach einem Aufruf der Künstlerin Stühle für das Kunstwerk gespendet und dem Haus damit etwas zurückgegeben hat.

Gleich um die Ecke finden sich drei weitere Standpunkte in der ebenfalls zum ersten Mal mit einbezogenen Alten Apotheke in Walldorf. Hier wartet Elsa Becke aus Heidelberg mit enigmatisch verfremdeten Fotografien auf, die sie durch Reduktion und Überblendung ins Abstrakte gleiten lässt. Meist hat die Künstlerin schon vor dem Motiv eine Vision im Kopf, die sie dann mittels digitaler Bildbearbeitung umsetzt.

Zeit und Konzentration sind bei der Betrachtung gut investiert. Das gilt auch für die Werke von Doris Erbacher, die in Mannheim ein Atelier betreibt. In ihren entfernt geometrischen, fein zwischen Ordnung und Abweichung changierenden Zeichnungen und Gemälden auf Holz steckt ausgesprochen viel Konzentration und Hintersinn. Das Nachspüren des künstlerischen Vorgehens in der Rezeption ist integrativer Bestandteil ihrer Arbeiten.

Die vierte Position, die die Kuratorin und ehemalige Direktorin des Kunstvereins Ludwigshafen, Barbara Auer, für Walldorf ausgewählt hat, stammt von Gisela Desuki aus Speyer. Die Projektionen in ihrer Video-Installation Interna III oszillieren zwischen Bewegung und Stillstand, Leben und Tod: Als Aufnahme in zwei Leuchtkästen sowie auf zwei Bildschirmen ist ein ernstes, regloses Frauengesicht zu sehen. Die Augen sind teils geschlossen, einmal rinnt Flüssigkeit über das Antlitz, immer wieder verwischen die Umrisse in diesem elementaren Werk.

Eine ganz andere Stimmung herrscht im Kreisarchiv in Ladenburg, das unter der Leitung der Galeristin Julia Philippi bespielt wird. Besonders gut passen die Arbeiten von Susanne Egle an diesen nüchternen Ort. Die Künstlerin aus Ilbesheim setzt ihre Archives & Spaces als Ausdruck jahrelanger Sammlertätigkeit den Archiven des Amtes in hauseigenen Vitrinen entgegen. Darin zeigt sie vielfach durch dünne Fäden verbundene Fundstücke oder auch skulpturale Kompositionen aus "objets trouvés".

In einer interessanten Verschränkung von Augenschein und Abstraktion bewegen sich die Fotografien von Susanne Neiss im Hauptraum der Ladenburger Ausstellung. Nur selten kann man erkennen, was da in intensiven Farben flimmert, schimmert oder leuchtet. In einer auf YouTube abrufbaren, virtuellen Vernissage der Radiale erzählt die Künstlerin aus Mannheim, dass es jeweils eine vor Ort empfundene Stimmung ist, die sie einzufangen versucht.

Mit den installativen Eingriffen von Natascha Brändli und Elisabeth Kamps, die im Kreisarchiv auch zueinander in Dialog treten, endet der Ladenburger Teil der Radiale.

Natascha Brändlis wunderbar reduzierte Zeichnungen haben etwas Organisches, natürlich Gewachsenes. Entsprechend vegetabil erscheinen die Linien, die die Künstlerin aus Burrweiler mittels 3D-Druck in den Raum erweitert und die in moosartiges Material gehüllt so aussehen, als würden sie hier in selbstbewusster Zeitlosigkeit schon lange von der Decke hängen. Ähnlich graphisch und amorph kommen die mehrbeinigen Wesen daher, die Elisabeth Kamps aus über Kopf platzierten Ästen und schwarzem Unkrautvlies formt und mit einer Art Sandsack aus dem gleichen Stoff verankert. Darüber hinaus durchzieht die Sinsheimer Künstlerin ein Areal des hinter dem Kreisarchiv liegenden Parks mit einer riesigen, hellen Linie. Es ist der größte der vielen in der Radiale verwendeten Erzählfäden, die auf variantenreiche Weise mal mit, mal ohne Reaktion auf den Raum gegebene Strukturen hervorheben, aufbrechen oder imaginär weiterspinnen.

Am 05. Juni 2021 im Feuilleton der Rhein-Neckar-Zeitung erschienen